Gespräch mit jungen Menschen jüdischen Glaubens
15.10.2025
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Daniel Neumann, Elian Leykin, Yael Irmscher, David Kor, Winfried Kändler, Dr. Raimund Wirth (v.l.n.r.)
Wachsender Antisemitismus: Wie geht es Jüdinnen und Juden in Deutschland?
Junge Menschen jüdischen Glaubens sprechen darüber, was sie nach dem 7. Oktober 2023 erlebt haben
Wie geht es Jüdinnen und Juden in Deutschland seit dem 7. Oktober 2023? Zu diesem Thema hatte das Evangelische Dekanat Darmstadt junge Menschen jüdischen Glaubens ins Offene Haus eingeladen. Daniel Neumann, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Darmstadt und des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen, hatte die Kontakte vermittelt. Dekan Dr. Raimund Wirth begrüßte die Gesprächspartnerin Yael Irmscher (17) und die Gesprächspartner David Kor (26) und Elian Leykin (16) sowie die rund 40 Gäste. Winfried Kändler, Bildungsreferent im Dekanat, moderierte den Abend.
Das Massaker der palästinensischen Terrororganisation Hamas am 7. Oktober 2023 in Israel hat bei Jüdinnen und Juden weltweit ein Trauma verursacht. Dekan Dr. Raimund Wirth räumte ein, dass sich die Zivilgesellschaft in Deutschland unmittelbar nach dem schrecklichen Überfall mit 1200 Toten zu wenig sichtbar solidarisch gezeigt habe. Nicht zuletzt nach der aufrüttelnden Rede Daniel Neumanns vor einem Jahr in der Darmstädter Synagoge habe Wirth das Gespräch mit ihm gesucht. Die Veranstaltung im Offenen Haus sei ein Ergebnis davon. Ziel sei, durch Zuhören mehr Verständnis für die Situation von jüdischen Menschen im eigenen Umfeld zu bekommen.
So führte Winfried Kändler eine Statistik heran, nach der 2024 antisemitische Vorfälle in Deutschland um 75 Prozent zugenommen hätten. Er fragte seine Gesprächspartnerin und Gesprächspartner daher zunächst, was sich für sie seit dem 7. Oktober 2023 verändert habe. Yael sei „als Kind früher offener mit ihrem Judentum umgegangen“, auch schon vor dem 7. Oktober sei sie dann in der weiterführenden Schule als „die Jüdin“ angesehen und „automatisch mit dem Nahost-Konflikt verbunden worden“. Das Judentum sei aber „viel größer“, das gehe in der Gesellschaft verloren.
David berichtete, dass sich der 7. Oktober auf sein soziales Umfeld ausgewirkt habe, Freunde keinen Kontakt mehr zu ihm gesucht hätten. In den zwei Jahren sei er „religiöser geworden“ und habe sich „stärker in der jüdischen Community“ engagiert. Er habe am Anfang die Universität gemieden, da dort Stille geherrscht habe, „keiner wollte reden“. Er habe sich zurückgezogen, habe sich bei Freunden in Europa wohler gefühlt als in seinem nächsten Umfeld. Auch Yael litt unter dem „Verlust von Freunden“. Erschrocken war sie, wie das Thema auf Social Media behandelt wurde. Die „Flucht in die jüdische Gemeinschaft“ sei ihre Therapie gewesen. „Ich wusste nicht mehr, wer noch unsere Freunde sind“, so Yael. Zuflucht habe sie auch auf jüdischen Freizeiten und im Jugendzentrum gefunden. Die Bedeutung der Jüdischen Gemeinde für sie sei seitdem noch gewachsen.
Elian habe an seiner Schule keine Ablehnung erfahren, er diskutiere vielmehr oft mit Freunden über den Nahost-Konflikt. Seine Familie habe ihn schützen wollen, sein Judentum nicht nach außen sichtbar zu machen, daher steckte sie seine Davidstern-Kette in seinen Pulli, erzählte Elian. Jedoch habe er die Kette immer wieder herausgeholt: „Ich mag das Gefühl nicht, mich verstecken zu müssen.“ In der Schule habe er nach dem 7. Oktober eher Schweigen erlebt, die Lehrerinnen und Lehrer seien überfordert gewesen.
Yael berichtet, dass sie in der ersten Woche nach dem 7. Oktober 2023 der Schule ferngeblieben sei. Sie habe Angst vor Mitschülern in ihrer Schule gehabt, die mitunter extremistisch und offensiv antisemitisch seien. Als sie wiedergekommen sei, habe ein Lehrer das Thema im Unterricht angesprochen. Ein Schüler habe das Massaker gutgeheißen. Sie habe geweint, auf dem Weg zum Bus habe ihr eine Gruppe junger Männer „Free Palestine“ hinterhergerufen. Die Situation habe sich bedrohlich angefühlt. Ein Vertrauenslehrer habe sich dafür eingesetzt, dass die betreffenden Jungen sich bei ihr entschuldigen sollten. Ansonsten habe ihre Schule keine Position bezogen und sich nicht an ihre Seite gestellt. So beschloss sie mit ihrer Familie, auf die Jüdische Schule nach Frankfurt zu wechseln.
Winfried Kändler fragte, wo sie außer in der Jüdischen Gemeinde noch Unterstützung gefunden hätten. Elian fand diese vor allem in seiner Familie und bei Freunden, außerhalb traf er auf „wenig Anteilnahme“. Yael habe lange gezögert, in ihrem Freundeskreis über Antisemitismus zu sprechen, der „immer schlimmer wird“. Besser habe sie darüber in dem Projekt „Meet a Jew“ sprechen können, mit dem sie in Schulen, Altenheime und Vereine geht, die anfragen. Hier könne sie durch Aufklärung über das Judentum „Antisemitismus vorbeugen und den Horizont erweitern“. David sagte, dass er nur wenige Rückzugsorte und auch nur wenige Freunde außerhalb der Jüdischen Community habe.
In einem zweiten Teil des Abends konnte das Publikum Fragen stellen. Hier wurde zunächst von Teilnehmenden Betroffenheit und Anteilnahme geäußert. Eine Zuhörerin mahnte: „Wir müssen den Mund aufmachen“ bei antisemitischen Äußerungen. Auf die Frage, wie Jüdinnen und Juden in Deutschland besser unterstützt werden könnten, antwortete David: „sie als normalen Bestandteil der deutschen Bevölkerung ansehen“. Elian bat darum, wie bei dieser Veranstaltung, „zuzuhören und die Stimme gegen Hass und Antisemitismus zu erheben“. Yael empfahl, auch antisemitische Posts und Kommentare im Internet zu melden, über Antisemitismus aufzuklären und Vorurteile abzubauen. Elian und David gaben an, viel Zeit damit zu verbringen, auf Social Media zu kommentieren oder auch Beiträge zu melden. Auch Yael melde Beiträge „mit extremistischem Hintergrund“.
Aus dem Publikum kam zudem das Anliegen, zwischen Kritik an der Politik Israels und Antisemitismus zu differenzieren. Hier vertrat Elian, dass Kritik am Land und am Vorgehen Israels für ihn noch keinen Antisemitismus darstelle, erst wenn das Existenzrechts Israels infrage gestellt werde und Juden angegriffen werden, einfach nur, weil sie Juden sind.
Befragt nach Alltagserfahrungen, berichtete Yael etwa, dass sie „viel mehr Furcht als früher“ habe und vorsichtiger auf ihrem Weg in die Synagoge sei. Ihre Kette mit dem hebräischen Schriftzeichen „Chai“, das Leben bedeutet, trage sie nicht mehr in der Öffentlichkeit. Auch ihr Onkel trage seine Kippa, die jüdische Kopfbedeckung, draußen nicht mehr, seitdem sie ihm jemandem vom Kopf geschnippt habe. David lebt in Nordhessen „auf dem Land“, da erlebe er keine antisemitischen Übergriffe. Während er in der Stadt seine Kappe über der Kippa tragen würde, zeige er sie dort offen. Dennoch mahnt er: „Man sollte auf sich aufpassen.“ Das Leben sei wichtiger, als stolz zu sein und Zeichen des Judentums nach außen zu tragen. Elian äußerte sein Bedauern, dass das Kippa-Tragen mitunter als Provokation aufgefasst werde, religiöse Symbole seien keine politischen Statements.
Aus dem Publikum kam zudem die Beobachtung, dass in Deutschland aufgewachsene jüdische Menschen mit Israelis gleichgesetzt würden und zu allem, was in Israel geschehe, Auskunft geben sollten. Dies bestätigte David. Elian stimmte dem ebenfalls zu, räumte aber ein, dass es natürlich „eine Verbindung zwischen Juden und Israel“ gebe, da Israel der einzige jüdische Staat weltweit sei. Viele Jüdinnen und Juden in Deutschland hätten familiäre, zumindest eine mentale Verbindung nach Israel. Das Land sei für sie nach wie vor „der einzige Safe Space“. Yael sagte, dass jede jüdische Person eine individuelle Verbindung zu Israel habe, aber nicht jede jüdische Person Repräsentant des Staates Israel sei.
Befragt nach internationaler Vernetzung berichtete Elian, dass er in der weltweiten jüdischen Jugendorganisation BBYO (B'nai B'rith Youth Organization) engagiert sei, David in der „World Union of Jewish Students“ (WUJS). Im Gespräch mit Jüdinnen und Juden aus anderen Ländern habe David festgestellt, dass es „in Deutschland noch besser sei als etwa in Frankreich oder den Niederlanden“. Von der großen jüdischen Community in Paris wisse er, dass bereits viele nach Israel gegangen seien. Yael pflege einen Austausch in Whatsapp-Gruppen zu internationalen jüdischen Themen.
Die Frage, ob sie selbst bereits darüber nachgedacht hätten, nach Israel auszuwandern, bejahte Yael. Ihre Familie sei vorbereitet und könnte nach Israel, wenn es hart auf hart käme. Doch dies sei nicht akut. Auch Elian denke darüber nach, wolle aber hierbleiben: „Ich bin Deutscher und will mich nicht vertreiben lassen.“ Er hoffe, nicht in die Situation zu kommen. „Ich sitze nicht auf gepackten Koffern“, sagte auch David. Dennoch reise er stets nur mit wenigen Sachen, damit er „schnell gehen kann“, wenn es nötig sei. Direkt nach dem 7. Oktober 2023 habe er stärker den Wunsch gehabt, aber jetzt denke er, dass es in Israel nicht viel einfacher als hier wäre, es dort andere Probleme gäbe.
Abschließend befragt nach ihren Wünschen an das Publikum, sagten alle drei übereinstimmend, dass es mehr solcher Diskussionsveranstaltungen geben sollte und dass noch mehr junge Leute daran teilnehmen sollten. Yael bat darum, sich weiterhin über das Judentum zu informieren, Fragen zu stellen und „Stereotypen zu hinterfragen“. David betonte, dass Jüdisch-Sein nicht nur mit Leid verbunden sei: „Akzeptiert uns wie ganz normale Menschen, das ist mein einziger Wunsch.“
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